Große Unternehmen sind schwer zu steuern. Veränderungen - der Stoff, aus dem Innovationen sind - haben in Konzernen meist einen schweren Stand. Ben Thompson und James Allworth vergleichen in ihrem Podcast kleine Unternehmen mit Fahrrädern - sie sind schlank und wendig unterwegs. Im Vergleich dazu ähneln Konzerne Hochgeschwindigkeitszügen, die auf festen Schienen fahren und den Kurs nicht spontan ändern können.
Nun hat ein nach allen Messgrößen gigantisches Unternehmen - Apple - im Harvard Business Review erklärt, wie es trotz Größe und unaufhaltsamem Wachstum versucht, innovativ zu bleiben. Der Artikel hat nicht den Rang einer wissenschaftlichen Untersuchung. Dennoch bietet er einen guten Einblick in die Organisationsstruktur von Apple und liefert damit eine seltene Diskussionsgrundlage.
Das Primat der Fachbereiche
Als Steve Jobs 1997 zurückkehrte, war Apple “konventionell“ organisiert: Es gab Business Units mit Verantwortung für Gewinn und Verlust pro Geschäftsbereich. So war etwa eine Business Unit für die Macintosh-Produktlinie verantwortlich, eine andere kümmerte sich um Softwareanwendungen.
Ab 1998 verwandelte sich Apple dann in eine funktionale Organisation. Das Unternehmen war damit nicht mehr in Geschäftsfeldern und Produkten aufgeteilt, sondern in Fachbereiche.
Wie im Bild ersichtlich, sind über die letzten zwanzig Jahre viele Bereiche dazu gekommen, die funktionale Struktur ist jedoch erhalten geblieben.
Diese funktionalen Struktur setzt Apple mit der erklärten Absicht ein, Forschung und Entwicklung nicht zu vernachlässigen:
In a functional organization, experts leading experts means that specialists create a deep bench in a given area, where they can learn from each other.
Als Beispiel wird das Kamera-Team im Bereich Hardware Technologies genannt. Das Team umfasst über 600 Mitarbeiter und arbeitet an allen Produkten, die mit Kameras ausgestattet sind (Smartphones, Tablets, Laptops und Desktops). Die gesamte fachliche Kompetenz ist also in einem einzigen Team konzentriert.
Wäre Apple dagegen in Geschäftseinheiten organisiert, würden die Kamera-Experten auf diese Einheiten verteilt. Dabei würde - so das Argument - das kollektives Wissen der Experten fragmentiert.
Nun ist Apple keine Forschungseinrichtung mit Wissen als Selbstweck, sondern ein Unternehmen für Konsumelektronik. Als solches muss es in der Lage sein, Produkte und Dienstleistungen am laufenden Band auf den Markt zu werfen. In der Entwicklung eines iPhones müssen viele Funktionen eng und fortlaufend zusammen arbeiten, um das Produkt erfolgreich durch den Design-, Entwicklungs-, Produktions- und Launch-Prozess zu bringen.
Wie kann das bei einer funktionalen Organisationsstruktur gelingen? Wie verhindert Apple eine Fragmentierung - nun nicht in Geschäftseinheiten, aber eben in funktionale Silos, in denen Fachabteilungen versuchen, sich selbst zu optimieren und die anderen zu übertrumpfen? Der Beitrag selbst gibt keine klare Antwort darauf. Er geht vielmehr auf die erforderlichen Kompetenzen der Verantwortungsträger ein:
Because no function is responsible for a product or service on its own, cross-functional collaboration is crucial.
Das klingt plausibel. Und doch erklärt es nicht die Ablauforganisation. Es erklärt nicht, wie die Zusammenarbeit zwischen unzähligen Teams und Abteilungen funktioniert. Es erklärt nicht, wie die Zahnräder im Maschinenraum des Apple-Universums ineinder greifen, um beispielsweise jeden Herbst zuverlässig das nächste iPhone zu liefern (von dem immer noch über 40% des Umsatzes abhängt).
Integration durch eine starke Matrix
Die New York Times hat 2013 eine fantastische Chronik über die Entstehung des iPhones geschrieben. Wer damals an der Entwicklung des ersten iPhones beteiligt war, wurde in einen eigenen, abgesperrten Bereich abgezogen und durfte seine Arbeitszeit und einen guten Teil seiner Freizeit dem hochgeheimen „Project Purple“ widmen. Das Muster war eindeutig: Die funktionalen Experten „verlassen“ ihre Fachdomäne für eine begrenzte Zeit und tauchen vollständig in die Entwicklung eines neuen Produktes ein.
Am Beispiel des ersten iPhones lässt sich gut erkennen, dass Apple keineswegs rein funktional organisiert war, sondern im gleichen Zuge eine Matrix-Organisation starker Ausprägung hatte. Um das zu erklären, schauen wir uns ein Beispiel für eine Matrix-Organisation an:
In diesem Bild werden die Mitarbeiter und Mitarberinnen aus den Fachabteilungen (z.B. Hardware) für Projekte temporär ausgeliehen. Eine Mitarbeiterin kann zudem in mehreren Projekten gleichzeitig eingesetzt werden. Wer wieviel in welchem Projekt eingesetzt wird, wird zwischen Teamleiterin und Projektleiter ausgemacht. Hier kann es ein Interessenkonflikt geben, da der Projektleiter die Mitarbeit aus den Fachabteilungen für sein Projekt „absichern“ möchte, die Teamleiterin wiederum seine Mitarbeiter gegen eine „Überplanung“ in zu viele Projekte schützen möchte.
Vereinfacht lässt sich sagen, dass in einer schwachen Matrix die Teamleitung (Aufbauorganisation) die Oberhand hat, während in einer starken Matrix das Projekt und die damit einhergehenden Prozesse (Ablauforganisaton) die Oberhand haben. Im „Project Purple“ für das erste iPhone haben wir es eindeutig mit einer starken Matrix zu tun gehabt. Mitarbeiter waren exklusiv für die Entwicklung des iPhones abbestellt.
Ken Kocienda, langjähriger Software-Entwickler bei Apple, erzählt in „Creative Selection“ von seinen „Assignments“ (Aufträgen), etwa zur Entwicklung des Safari-Browsers oder der Touchscreen-Tastatur für das iPhone. Im Buch wird deutlich, dass diese Aufträge nicht nur volle Aufmerksamkeit und Hingabe erforderten, sondern auch unter ständiger Beobachtung und Prüfung vom Management standen.
Die wöchentlichen Demos, in denen die Projektmitarbeiter den Fortschritt ihrer Arbeiten vorführten, konnten über Karrieren entscheiden. So berichtet Kocienda, wie damals Scott Forstall für die Entwicklung der Touchscreen-Tastatur die Rolle des „Chief reviewer and decider“ inne hatte:
We all craned our necks to see what he was looking at, as he went through updates on apps, designs, and thoughts for making a computing system built around touch. Even when demos went well, there was always a steady flow of feedback, suggestions for change, impressions on how the software might behave differently. Everyone spoke up.
Es spricht viel dafür, dass Apple nach wie vor in einer solchen starken Matrix organisiert ist: Das iPhone und die weiteren Produkte und Dienstleistungen im Apfel-Ökosystem sind von Jahr zu Jahr komplexer geworden. Die Abhängigkeiten zueinander und die Fertigungstiefe sind gestiegen - von der Anzahl der Mitwirkenden ganz zu schweigen.
Projekte in dieser Größenordnung lassen sich nur bewältigen, wenn eine starke und dedizierte Bindung über die verschiedenen Fachbereiche und Entwicklungsstufen hinweg besteht. Zudem benötigt es Prozesse erster oder zweiter Ordnung, um in iterativen Schleifen das Vorgehen immer wieder aufs Neue zu planen, zu beobachten und anzupassen. Die wöchentlichen Demos aus den Nullerjahren, von denen Ken Kocienda berichtet, reichen hier vermutlich längst nicht mehr aus.
So können wir abschließend festhalten, dass Apples funktionale Organisationsstruktur durch zwei Säulen zusammen gehalten wird:
Eine Epistokratie (Herrschaft der Wissenden), in der Fachwissen und Forschung Voraussetzung sind, um mitreden zu können (so erklärt sich auch die im Beitrag erwähnte Abneigung gegen „General Managers“, die Unternehmensführung ohne Fachwissen beanspruchen).
Eine starke Matrix, in der Mitarbeiter letztendlich nicht aufgrund ihres Fachwissens, sondern aufgrund ihrer Beiträge und ihrer Leistung in Projekten bewertet werden (und zwar nicht von Projektleitern, sondern von Fachexperten, die selber aufgrund ihrer Projekterfolge ins Management aufgestiegen sind).
Hey Rafael, danke! Die starke Kultur und der geteilten Glauben an die Sache sind sicher weitere Faktoren zum Verständnis dieses Unternehmens. Der Gründungsmythos von Apple und der Kult rund um Steve Jobs stiften Identität und schaffen Werte, die Zusammenarbeit und das Streben nach Exzellenz begünstigen.
Wie immer, super gut strukturiert! Wissen, Matrix und eine starke "Kultur" und das "Glauben an der Sache" runden bestimmt auch die Nachhaltigkeit des Erfolgs. Ich kann mir vorstellen, dass einige Mitarbeiter des so genannten "Project Purple" am Ende des Projektes sehr erschöpft waren...