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Ergebnisblindheit: Wenn Prozesse Innovation verhindern



Im Gottesdienst erzählt die Pastorin von einer Diskussion mit ihrer Rentenkasse. Die Kasse hatte Belege verloren, die in mühsamer Arbeit nachgereicht werden mussten. Die Pastorin sagte am Telefon zur Mitarbeiterin der Rentenkasse: „Nun wäre ein Entschuldigung angebracht“. Die Mitarbeiterin: „Nein, wir sind daran nicht Schuld. Das war das Computersystem!“


Geschäftsprozesse und die damit verbundenen Systeme stehen spätestens seit dem agilen Manifest unter Verdacht, Menschen ihrer Verantwortung zu entheben. Im Manifest von 2001 findet sich denn auch die Aussage, dass Individuen und Interaktionen „mehr“ als Prozesse und Werkzeuge gelten sollten (Quelle: hier).


Jeff Bezos wiederum hat 2017 in seinem Brief an die Amazon-Aktionäre davor gewarnt, dass eine Prozessfokussierung zu Ergebnisblindheit führen kann (Quelle: hier):

Der Prozess wird zur Näherungslösung für das Ergebnis, das du anstrebst. Du hörst auf, auf die Ergebnisse zu schauen und stellst bloß sicher, dass der Prozess richtig läuft. Es ist keine Seltenheit, dass man eine junge Führungskraft hört, die ein schlechtes Ergebnis so verteidigt: „Also, wir sind dem Prozess gefolgt.“ Eine erfahrenere Führungskraft würde dies als Gelegenheit sehen, den Prozess zu hinterfragen und zu verbessern. Der Prozess ist nicht das Ding.
 

Prozesse braucht es überall


Prozesse sind die wiederholbare Verknüpfung von Tätigkeiten, um Ziele zu erreichen. Der Grad an Formalität kann stark variieren: Prozesse können als detaillierte Ablaufdiagramme dokumentiert werden oder einfach nur verinnerlichte Routinen sein, die in den Köpfen der Prozessdurchführenden existieren. Wie auch immer Prozesse aussehen und beschrieben werden: Jedes Unternehmen, vom Imbiss bis zur Raumfahrtkonzern, braucht Prozesse, um zu funktionieren.


Ein Beispiel dafür, wie Prozesse in einem Unternehmen funktionieren, ist die Bestellabwicklung bei Amazon. Wenn ein Kunde eine Bestellung aufgibt, gibt es eine standardisierte Abfolge von Schritten, die durchgeführt werden müssen, um sicherzustellen, dass die richtigen Artikel in kurzer Zeit an den richtigen Kunden geliefert werden. Es gibt eine automatisierte Bestellungsabwicklung, ein Lager- und Versandsystem sowie ein Kundensupport-System. Alle diese Prozesse sind standardisiert und optimiert.

 

Die lähmende Wirkung von Prozessen


Die Unverzichtbarkeit von Prozessen in Unternehmen ist jedoch kein Argument für ihre Harmlosigkeit. Wenn Prozesse an erster Stelle stehen, wird die „sture“ Befolgung des Prozesses Vorrang gegenüber der selbständigen Entscheidung bekommen. In manchem Kontext macht das durchaus Sinn, etwa bei der Bedienung von komplexen Maschinen wie Flugzeugen. Geht es jedoch um die Entwicklung von Produkten, kann der Vorrang von Prozessen zur Lähmung führen.


Das Wall Street Journal hat beschrieben, wie das altgediente US-Pharmaunternehmen Eli Lilly bei der Entwicklung neuer Medikamente von internen Entscheidungsprozessen gebremst wurde und so gegenüber der Konkurrenz ins Hintertreffen geriet (Quelle: hier):

One internal committee after another second-guessed every recommendation to advance promising drug candidates. The decisions got revisited every step of the way (…). The committees were intended to ensure thorough vetting, but in practice became a limiting process that squeezed out bold ideas.

Hier zeigt sich die paralysierende Wirkung von Unternehmensprozessen: Wer Investitionsentscheidungen detaillierten Prüfungen und Freigabeanforderungen durch zentrale Komitees unterwirft, riskiert nicht nur Verlangsamung, sondern auch einseitige Entscheidungen. Das ist vergleichbar mit einer Kreuzung, wo alle Autos sich nach einer Ampel und ihrer Taktung richten müssen.


Die Entscheidungsträger in den Komitees von Eli Lilly waren weniger an der Entwicklung vielversprechender Therapien als an der Sicherung des Bestandgeschäftes interessiert. Ein aussichtsreicher Kandidat für ein Mittel zum Abnehmen wurde zurück gestellt, weil man die Kannibalisierung eines bereits eingeführten Medikaments mit ähnlicher aber deutlicher geringerer Wirkung befürchtete.


Mittlerweile hat sich der Fokus bei Eli Lilly geändert: Forscher haben mehr Freiraum, um Innovationsideen zu erproben und Geschäftsentscheidungen selber zu treffen. Dinge, die früher in getrennten Phasen abgearbeitet wurden, werden nun gleichzeitig in Angriff genommen. Die Macht der Komitees wurde beschnitten. Die Laufzeit für die Entwicklung neuer Medikamente sank von elf auf sechs Jahren.

 

Freiheit, Nähe, dezentrale Eigentümerschaft


Wenn Prozesse Überhand nehmen und zum Selbstzweck werden, riskiert das Unternehmen, den Blick auf seine Umwelt zu verlieren. Es ist gefangen in der Befolgung von internen Prozessen, Vorgaben und Systemen. Vor lauter Selbstbeschäftigung bemerkt es nicht mehr, wenn die Welt draußen sich verändert. Es spürt nicht mehr, wenn die Wertschöpfung nach und nach versiegt - formal macht es doch “alles richtig“!


Damit Prozesse Innovation nicht verhindern, sondern diese unterstützen, sind drei Merkmale wichtig: Freiheit, Nähe, und dezentrale Eigentümerschaft:


Freiheit statt Einengung - wie viel Spielraum gibt der Prozess?

  • Freiheit: Ein agiler Prozess, der „nur“ fordert, dass in kurzen Intervallen ein funktionierendes Produktinkrement vorgestellt wird.

  • Einengung: Ein Meilensteinprozess mit detaillierten Vorgaben und Checklisten zur Freigabe jeder Etappe.

Nähe statt Distanz - wie weit sind Entscheidungsträger vom Produkt entfernt?

  • Nähe: Ein Prozess, der Priorisierungs- und Umsetzungsentscheidungen dem Entwicklungsteam überlässt (weil dieses das Produkt am besten kennt oder kennen sollte).

  • Distanz: Ein Prozess, der Priorisierungs- und Umsetzungsentscheidungen einem Komitee überlässt, das das Produkt nur mittelbar kennt (z.B. aus Statusberichten).

Dezentrale Eigentümerschaft statt Zentralismus - wer hat Verantwortung?

  • Dezentrale Eigentümerschaft: Prozesse „gehören“ den Prozessdurchführenden (z.B. sind Entwicklungsteams für die Gestaltung, Messung und Verbesserung ihrer Prozesse größtenteils verantwortlich).

  • Zentralismus: Es gibt eine Abteilung oder Stelle im Unternehmen (z.B. ein Business Process Management Office), das Prozesse größtenteils in Eigenregie erstellt. schult, bewertet und verändert.

 

Fazit

Wir sind daran nicht Schuld. Das war das Computersystem!“

Gut möglich, dass die anfangs erwähnte Mitarbeiterin der Rentenkasse ihre Aussage ernst meinte. Dass sie das Computersystem und die damit verbundenen Prozesse als eine fremde, höhere Macht wahrgenommen hat, mit der sie selber gar nichts am Hut hat.


Wenn wir wollen, dass Menschen wieder für den Erfolg ihres Unternehmens Verantwortung übernehmen, müssen wir von Zeit zu Zeit das Dickicht aus Prozessen, ihren Vorgaben und Werkzeugen zerschlagen, und so den Blick nach außen wieder herstellen.




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