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Ist der Scrum Master eine Führungskraft?



Agile Unternehmen sind eher früher als später mit der Führungsfrage konfrontiert. Denn mit agilen Teams steht immer auch das Versprechen der Selbstorganisation im Raum. Agile Teams sollen in der Lage sein, selbstorganisiert zu arbeiten. Für das Management ergibt sich die Aufgabe, agilen Teams die dafür nötigen Freiräume zu geben. Das agile Manifest spricht von Vertrauen: „Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen.“


Vertrauen braucht aber eine Grundlage, auf der es entstehen und wachsen kann. Ein Scrum-Team wird nicht von einem Tag auf den nächsten alle Aufgaben und Verantwortungen übernehmen, die zuvor dem Management und der Projektleitung gehörten. Scrum-Teams und die gesamte Organisation müssen erstmal lernen, das agile Versprechen von Selbstorganisation einzulösen. Innerhalb des Scrum-Teams kommt bei diesem Lernprozess dem Scrum Master die zentrale Rolle zu: Schließlich soll der Scrum Master seinem Team Scrum „beibringen“, die Abläufe produktiv halten, Impediments lösen und überhaupt den agilen Change in der Organisation vorantreiben (zur Rollenbeschreibung des Scrum Master siehe z.B. hier).


Die Sache mit der lateralen Führung


Bei der Agile PEP Minds im vergangenen Jahr ging es es in der Fishbowl Session um die Frage, welche Bedeutung Führung im agilen Kontext hat. Ich behauptete, der Scrum Master dürfe im agilen Team nicht nur Moderator und Vermittler sein, sondern müsse die Rolle einer Führungskraft wahrnehmen. Björn Eberhard saß neben mir und nahm meine Äußerung auf - ich sah schon an seinem Stirnrunzeln, dass er anderer Meinung war. Sein Argument: Wenn der Scrum Master zur Führungskraft wird, dann ist es schnell vorbei mit der Selbstorganisation des agilen Teams - und der Scrum Master macht das, was früher z.B. der Teamleiter gemacht hat.


Das Argument hat mich zum Nachdenken gebracht - wirft es doch die Frage auf, was genau nun der Anspruch des Scrum Master sein sollte. Bis vor einigen Jahren wäre es mir selber nicht in den Sinn gekommen, den Scrum Master als Führungskraft zu sehen. Ich hätte damals so argumentiert:


Natürlich ist der Scrum Master keine Führungskraft. Der Scrum Master hat vielmehr „laterale Führung“. Er führt sein Team ohne Macht und ohne disziplinarische Kompetenzen in der Hierarchie, sondern kraft Anerkennung durch das Team und durch die Organisation.


Mittlerweile denke ich, dass der Begriff der „lateralen Führung“ notwendig aber unzureichend ist, um die Aufgabe des Scrum Masters zu beschreiben. Selbstverständlich ist es wichtig, dass der Scrum Master in seiner Rolle anerkannt ist. Ebenfalls ist es richtig, dass der Scrum Master nicht aus der Hierarchie heraus agiert (als Vorgesetzter), sondern als einfaches Mitglied des agilen Teams.


Laterale Führung alleine ist jedoch zu dünn, um den Anforderungen an die Rolle des Scrum Master gerecht zu werden. Laterale Führung gilt nämlich für die anderen Rollen in Scrum genauso: Der Product Owner sollte eine attraktive Vision und aussagekräftige User Stories im Gepäck haben, um sein Team positiv zu beeinflussen und damit zu führen. Und auch Mitglieder des Entwicklungsteams haben häufig eine lateral führende Position, wenn sie z.B. besondere Expertise auf einem Fachgebiet besitzen.


Selbstorganisation braucht enge Führung


Ein Scrum Master muss einen höheren Führungsanspruch haben als ein Product Owner oder das Development Team. Denn die Anforderung an Teams, agil und selbstorganisiert zu arbeiten, ist hoch gesteckt: Im Idealfall arbeiten agile Teams als quasi-selbständige Einheiten, die im Rahmen der Unternehmensvision und -strategie alle Freiheiten besitzen, um erfolgreiche Produkte zu entwickeln.


Dies hohen Anforderungen können von agilen Team schnell als Zumutung empfunden werden - nach dem Motto: „Wir dürfen jetzt mal irgendwie machen während das Management sich zurück lehnt und zuschaut, bis wir krachend gegen die Wand fahren“ (so oder ähnlich auf mehr als einem Kundenprojekten gehört).


Damit die Transition zur Selbstorganisation gelingen kann und nicht in Überforderung mündet, ist - zumindest in den Anfangsphasen - eine enge Führung der agilen Teams wichtig. Nehmen wir ein Beispiel: Wenn das neu gegründete agile Team erkennt, dass es unmöglich zum Ende jedes Sprints fertige Produktinkremente liefern kann, weil die dafür erforderlichen Integrationstests von einer anderen Abteilung und erst vor Release durchgeführt werden, dann haben wir es mit einem Impediment zu tun, das ungelöst schnell in Frustration und Resignation umschlagen kann.


Dieses Impediment kann nicht vom Team alleine gelöst werden, sondern benötigt Änderungen im Aufbau und in den Abläufen der Organisation. Es wäre fatal, wenn das Management hier nur zuschauen würde. Andererseits wollen wir auch nicht, dass der Team- oder Abteilungsleiter in agilen Teams hockt und quasi als vierte Rolle versucht, hier mitzumischen. Genau an dieser Stelle wird von der Rolle des Scrum Master erwartet, dass er solche - und viele andere - Impediments aus dem agilen Team heraus in die Organisation transportiert und mit dem Management „auf Augenhöhe“ über Lösungen verhandelt.


Betrachten wir den Scrum Master als Wegbereiter zur Selbstorganisation der agilen Teams, landen wir schnell bei den Anforderungen, die eine gute Führungskraft generell benötigt (siehe z.B. bei Reinhard K. Sprenger):

  • Zusammenarbeit an einem gemeinsamen Problem organisieren, die sich (noch) nicht von selber ergibt

  • Transaktionskosten senken

  • Konflikte lösen

  • Mitarbeiter herausfordern und fördern

  • ...

Dass der Scrum Master bei alledem keine hierarchische Vorgesetztenfunktion hat, sondern die Anerkennung seines Teams und der Organisation zur Legitimation braucht, tut dem keinen Abbruch. Im Gegenteil:


Respekt muss sich ein Manager, der aus einer „Position ohne Macht“ heraus führt, härter erarbeiten als ein in Amt und Würden eingesetzter Manager. Führung ohne Position und ohne Weisungsbefugnis, das laterale Führen, ist (jedoch) nur auf den ersten Blick viel schwieriger. Gelingt es der Führungskraft, den Respekt der anderen zu gewinnen, dann wird Führung wesentlich einfacher und entspannter (Gloger und Rösner 2017, 65).

Fazit: Wir tun gut darin, den Scrum Master als vollwertige Führungskraft anzuerkennen. Seine Position als „laterale Führungsperson“ tut dem kein Abbruch, sondern bietet eigene Möglichkeiten. Wie bei jeder Führungskraft besteht auch beim Scrum Master das Risiko, dass er seine Führungsposition nutzt, um Selbstorganisation zu unterminieren und Abhängigkeiten zu erzeugen. Deshalb ist es aber noch lange keine gute Idee, dem Scrum Master den Status als Führungskraft zu verweigern. Denn die Herausforderungen auf dem Weg zur Selbstorganisation brauchen Menschen mit Führungskompetenzen. Diese Kompetenzen müssen im agilen Team vorhanden sein - und hierfür ist die Rolle des Scrum Master prädestiniert.


Ist einmal ein gewisser Grad an Selbstorganisation erreicht, darf und sollte der Scrum Master ein Stück weit zurück treten. Jeder im agilen Team sollte ab einem gewissen Zeitpunkt in der Lage sein, auch größere Impediments selbständig zu lösen und Scrum Master-Aufgaben wahrzunehmen. Ist eine solche Stufe erreicht, kann der Scrum Master punktueller unterstützen - eben dort, wo es zum Erreichen der nächsten Schritte noch erforderlich ist (siehe z.B. das Agile Fluency Model). Da agile Transitionen nach aller Erfahrung einen längeren Zeithorizont haben, dürfte dem Scrum Master die Arbeit so schnell nicht ausgehen.

 

Literatur zum Thema:


Boris Gloger und Dieter Rösner (2017): Selbstorganisation braucht Führung. 2. Auflage. Carl Hanser Verlag, München.

 


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