Agile Transformationen sind wie Großbaustellen: Beide starten mit ehrgeizigen Visionen und hoch gesteckten Zielen. Beide denken im großen Format und sind bereit, für die Veränderung großzügig zu investieren. Doch mit der Zeit stellt sich allzu häufig Ernüchterung ein: Die Kosten laufen aus dem Ruder, der Fortschritt gerät ins Stocken, aus dem Abenteuer wird ein Alptraum. Im schlimmsten Fall bleiben Ruinen und versenkte Millionen übrig - Mahnmale der menschlichen Hybris.
Das Buch „Agile Transformation“ der Autoren und Autorinnen Schmiedinger, Rasche, Thonfeld und Tuchen tritt mit dem Anspruch an, praktische Hilfe zum Gelingen agiler Transformationen zu leisten.
„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Der Satz des Philosophen Theodor W. Adorno behauptet die Unmöglichkeit, das Richtige in einem falschen Umfeld zu tun. Für Agilität scheint dies nicht zu gelten: Immer wieder gedeihen agile Teams im Schatten von Organisationen, die für das Thema wenig übrig haben. Diese agilen Mauerblümchen arbeiten - so gut es eben geht - nach agilen Prinzipien und lassen sich von Störungen der Umgebung nicht umhauen.
Umgekehrt jedoch ist eine agile Organisation ohne agile Teams schwer vorstellbar. Auch 20 Jahre nach dem agilen Manifest gelten kleine, eng miteinander arbeitende Teams als Fundament für agile Produktentwicklung. Was sich geändert hat, ist die damit verbundene Ambition. Mittlerweile werden hochkomplexe Systeme wie autonome Fahrassistenten agil entwickelt. Da genügt es einfach nicht mehr, kleine Teams isoliert vor sich her arbeiten zu lassen - es braucht einen Rahmen für die gesamte Organisation.
Nun ist es kein Geheimnis, dass skalierte Frameworks wie SAFe oder LeSS seit einigen Jahren auf dem Markt sind, um uns agile Produktentwicklung in großen Unternehmungen zu erklären. Das Buch „Agile Transformation“ widmet diesen Frameworks ganze zwei Seiten. Diese Missachtung ist kein Zufall, lautet doch die Empfehlung des Buches, „immer mit einer organischen Skalierung zu starten“ (S. 22). Frei übersetzt: Setze dort an, wo dein Unternehmen gerade steht, und baue vorsichtig darauf auf.
Habe ich zum Beispiel mehrere Scrum-Teams und möchte die Zusammenarbeit zwischen diesen verstärken, dann ist das Scrum of Scrums (SoS) ein einfaches und probates Mittel.
Statt sich auf dem Legofeld der Skalierungsframeworks zu tummeln, konzentriert sich das Buch auf die so genannten „Sechs Bausteine der agilen Organisation“:
Bei dieser Pyramide fallen einige Ähnlichkeiten mit der ISO 9001 auf - das ist die Norm mit den Anforderungen für Qualitätsmanagementsysteme. Hier wie dort wird die Bedeutung von Führung, Kompetenzen, Kundenzentrierung und Infrastruktur heraus gearbeitet. Hier wie dort wird ein systematischer Ansatz verfolgt: Erfolg ist eben nicht das Ergebnis einzelner Bemühungen.
Glänzen kann das Buch mit der Architektur der agilen Transformation. Das beginnt mit der Einführung des so genannten Transformation Teams. Die Autoren und Autorinnen nutzen ihre Erfahrungen auf Kundenprojekten, um aufzuzeigen, was es hier so alles zu beachten gibt. So wird das Transformation Team von der Geschäftsführung beauftragt. Es bildet einen repräsentativer Querschnitt aller Teile der Organisation ab, die von der Veränderung betroffen sind.
Glücklicherweise bleibt das Buch nicht beim Transformation Team stehen, sondern arbeitet sich konsequent durch die Vielschichtigkeit von Organisationen durch. Es werden agile Pilotteams empfohlen, die „als Pioniere agile Methoden für die Organisation ausprobieren“ (S. 86). Und dann gibt es da noch die Fokusgruppen, die dediziert an bestimmten Themen der agilen Transformation (z.B. Karrierepfade für agile Rollen) arbeiten. Das Buch hat denn auch seinen inhaltlichen Schwerpunkt darin, das Funktionieren dieser Triade aus Transformation Team, agilen Pilotteams und Fokusgruppen mit vielen praktischen Hinweisen zu erklären. Ebenfalls werden häufige Impediments reflektiert - etwa die mangelnde Unterstützung durch das Topmanagement oder ein zu langsames Veränderungstempo.
Zum Abschluss beschäftigt sich das Buch mit der Frage, wann denn eine agile Transformation „zu Ende“ ist. Das ist natürlich eine Fangfrage, denn Veränderungen wird es geben, so lange Unternehmen existieren. Zur Standortbestimmung auf der agilen Reise empfehlen die Autoren und Autorinnen, die sechs Bausteine der agilen Organisation (Bild oben) als Referenz zu nehmen und zu reflektieren, inwiefern auf diesen Ebenen die angestrebten Veränderungen erreicht wurden. Praktischerweise liegt hierfür gleich eine Checkliste bei.
Zur Frage, wie lange ein Transformation Team die Zügel in der Hand behalten soll, bleibt das Buch erstaunlich vage. Zum einen wird davon abgeraten, das Transition Team aufzulösen, so lange dieses ein „High Performance Team“ ist (S. 181). Zum anderen wird suggeriert, dass sich das Transition Team mit der Zeit „verändern“ und in neuer Gestalt auftreten soll. Das kann dann eine „coachende Linieneinheit“, eine „Einheit für Organisationsentwicklung“ oder eine „Community of Practice“ sein (S. 182-183).
Warum eine Auflösung des Transformation Teams nicht in Frage kommt, bleibt ein Rätsel. Vielleicht ist es hier wie mit dem Qualitätsmanagement: In einer reifen Organisation werden Agilität wie Qualität irgendwann überall gelebt - die Rolle des zentralen Aufpassers ist damit hinfällig. Der Aufpasser gerät in eine Sinnkrise, deren Lösung mit der Frage zusammen hängt, wie die Organisation noch sinnvoll unterstützt werden kann.
Das Buch „Agile Transformation: Der Praxisguide zum Change abseits des Happy Path“ ist im Carl Hanser Verlag erschienen und kostet gedruckt 29,99 €.
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Foto Baugerüst von Igor Starkov von Pexels
Foto Bausteine von Scott McNiel von Pexels
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