Im privaten wie im beruflichen Alltag lösen wir täglich eine gewaltige Anzahl an Aufgaben. Manchen Aufgaben gehen uns leicht von der Hand, andere brauchen unsere gesamte Aufmerksamkeit.
Meistens wissen wir, was gerade nötig ist - und kommen so gut durch die Welt. Hin und wieder fallen wir jedoch gewaltig auf die Nase, weil wir unser Aufmerksamkeit viel zu spät eingeschaltet haben. Das kann die Kollision mit dem Schulkind sein, das beim Radfahren völlig unerwartet um die Ecke rennt. Es kann die Entscheidung gegen einen auf den ersten Blick unpassenden Bewerber sein, der für das Unternehmen ein großer Gewinn gewesen wäre.
Zwei Systeme wohnen in unserer Brust
Fehler gehören zum Alltag und sind Teil unserer Fähigkeit, Entscheidungen treffen. Wie aber treffen wir Entscheidungen? Der Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman spricht von „zwei Systemen“, die unser Handeln permanent begleiten:
System 1 arbeitet mit wenig bis keinem Aufwand, die Abläufe sind automatisch und schnell. Die Arbeit vom System 1 passiert „im Hintergrund“ - also ohne unser bewusste Kontrolle.
System 2 steuert unsere Aufmerksamkeit auf Aufgaben, die geistigen Aufwand benötigen. Bei der Arbeit von System 2 haben wir das Gefühl, das Heft des Handelns selber in der Hand zu haben, Auswahlen treffen zu können und konzentriert zu sein.
Viele Dinge im Alltag werden von System 1 erledigt. Dazu gehört der Weg zur Arbeit im Auto oder auf dem Rad (bei überschaubarem Verkehr), die Erkennung eine freundlichen Stimme im Gespräch, aber auch das Treffen von regelbasierten Entscheidungen in einem bekannten Umfeld. So ist ein erfahrener Schachspieler durchaus in der Lage, allein mit System 1 einen starken Schachzug zu machen, weil er ein bekanntes Muster wieder erkennt und den passenden Zug verinnerlicht hat.
Wenn Eindrücke zu Fehlentscheidungen verleiten
In seinem Buch präsentiert Kahneman zahlreiche Situation, die zeigen, wie leicht wir uns bisweilen durch System 1 in unseren Entscheidungen „täuschen“ lassen können. So erzählt er von einem Experiment bei der israelischen Armee, bei dem Offiziersanwärter die Aufgabe bekamen, in einem Team (dessen Mitglieder sich untereinander nicht kannten) einen langen Holzstamm über eine Mauer zu befördern. Das Handeln der Anwärter wurde von zwei Beobachtern bewertet. Anhand der Beobachtungen sollte vorausgesagt werden, wie gut jemand für die Offizierslaufbahn geeignet war. Den Beobachtern fielen dabei die positiven und negativen Eigenschaften der Bewerber deutlich ins Auge:
As a colleague and I monitored the exercise, we made note of who took charge, who tried to lead but was rebuffed, how cooperative each soldier was in contributing to the group effort. We saw who seemed to be stubborn, submissive, arrogant, patient, hot-tempered, persistent, or a quitter (Kahneman 2011, 210).
Jeder Anwärter wurde formal mit einer Punktzahl im Hinblick auf seine Eignung bewertet. Kahneman berichtet, dass sich die Bewertenden in ihren Urteilen größtenteils einig waren. Aber waren ihre Einschätzungen valide? Konnten sie die Eignung der Anwärter voraussagen?
Um die Validität der Bewertungen herauszufinden, wurden über die nächsten Monate in regelmäßigen Abständen Feedback-Gespräche geführt, in denen die Ausbilder berichteten, wie sich die Anwärter in ihrer Offiziersausbildung tatsächlich entwickelten. Dabei zeigte sich, wie sehr die Voraussagen daneben gelegen hatten:
Our ability to predict performance at the school was neglible. Our forecasts were better than blind guesses, but not by much (Kahneman 2011, 211).
Mit anderen Worten: Wäre die Eignung der Anwärter durch Zufall (zum Beispiel durch Würfeln) ermittelt worden, wäre die Aussagekraft nicht viel schlechter gewesen als die Punktzahl, welche die zwei menschlichen Beobachter ermittelt hatten.
Wir lernen folglich, dass unsere Entscheidungen bisweilen ziemlich schwach sein können, obwohl wir uns unserer Sache ziemlich sicher sind. System 1 hat uns gewissermaßen überlistet, indem es unsere Eindrücke schnell und automatisch verarbeitet hat, bevor wir mit System 2 überhaupt konzentriert darüber nachdenken konnten.
Nun wäre es fatal, aus dieser Erkenntnis ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber menschlichen Entscheidungen zu entwickeln. Wir brauchen das schnelle und automatisierte Entscheiden, um überhaupt durch den Tag zu kommen. Doch wenn viel auf dem Spiel steht (zum Beispiel bei der Auswahl von Bewerbern), sollten wir uns unserer Fehlbarkeit bewusst sein und die Risiken von Fehlentscheidungen zu minimieren. Dafür lohnt es sich, Strategien zu entwickeln, damit System 1 nicht für uns entscheidet.
In welchem Kontext treffen wir Entscheidungen?
Eine solche Strategie kann darin bestehen, sich den Kontext einer Entscheidung bewusst zu machen. Haben wir es mit einfachen Sachverhalten zu tun, können wir bereits gewonnene Erfahrungen aus der Schublade holen und zum Beispiel mit Hilfe von Best Practices beschreiben. Der Prozess zum IT-gestützten Erstellen, Bearbeiten und Schließen eines Servicetickets ist ein Beispiel hierfür.
Komplizierte Sachverhalte sind erstmal schwieriger zu lösen, aber immer noch grundsätzlich lösbar. Hier können wir auf Expertenwissen zugreifen, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen. Beispiel hierfür ist der Aufbau einer Produktionsstraße.
Komplexe Sachverhalte sind anders, weil sie sich nicht mit tradiertem Wissen zuverlässig lösen lassen. In einem Unternehmen haben wir häufig mit komplexen Sachverhalten zu tun: Ist dieser Bewerber der richtige? Sollen wir das Produkt in einer günstigeren Variante heraus bringen? Steigern wir mit Heimarbeit die Produktivität unserer Mitarbeiter?
Das Risiko, eine nachteilige Entscheidung zu treffen, lässt sich selbst bei allem Wissen der Welt nicht eliminieren - denn komplexe Sachverhalte habe nicht die richtige(n) Antwort(en) parat. Selbst im Rückblick werden wir bei komplexen Situationen nicht eindeutig sagen können, dass diese oder jene Entscheidung dazu geführt hat, dass wir erfolgreich waren. Denn die Wechselwirkungen sind im Kontext von komplexen Situationen unüberschaubar.
Wir sehen also, dass wir in unseren Entscheidungen zweifach fehleranfällig sind:
Innerlich, durch die zwei Systeme „in unserer Brust“
Äusserlich, durch die Komplexität unserer Umgebung
Agiles Prozessmanagement als Schutz gegen Fehlentscheidungen
Im agilen Prozessmanagement müssen wir uns dieser Anfälligkeiten bewusst sein und Mechanismen errichten, die das Risiko und die Auswirkungen von Fehlentscheidungen reduzieren.
Wenn zum Beispiel der Bewerbungsprozess stark auf ersten Eindrücken beruht (so wie das oben geschilderte Experiment mit den Offiziersanwärtern), dann wird System 1 in einer komplexen Situation leicht die Oberhand gewinnen.
Häufig laufen Bewerbungsprozesse genau so ab: Es findet ein Bewerbungsgespräch zu Lebenslauf, Erfahrungen und Motivation statt, an dessen Ende allgemeine Eindrücke ausgetauscht werden. Ein strukturierter Prozess mit denselben Interviewfragen für alle Bewerber, einer klaren Erwartungshaltung (welche drei oder vier Eigenschaften werden bei jedem Bewerber bewertet?) und einem validierten Fragebogen kann dabei helfen, System 2 „anzuwerfen“ und ersten Eindrücken (die es immer geben wird) Einhalt zu gebieten.
Agiles Prozessmanagement muss sich zudem darüber bewusst sein, dass in komplexen Situationen selbst der beste Prozess nicht in der Lage sein wird, das gewünschte Ergebnis zuverlässig zu produzieren. Deshalb gehen wir analog zur agilen Produktentwicklung vor: In kleinen Schritten und experimentell vorgehen, die Ergebnisse schon nach kurzer Zeit bewerten und Anpassungen durchführen, wenn die Kosten dafür noch gering sind (Stichwort: „safe to fail“).
Für den Bewerbungsprozess könnte das zum Beispiel bedeuten, dass der Bewerber schon während der Rekrutierung für einen oder mehrere Tag in seinem künftigen Team dabei ist und gewisse, klar abgegrenzte Aufgaben übernimmt. Mit dem ersten Arbeitstag und über die gesamte Probezeit hinweg werden die Aufgaben stufenweise erweitert. So erhält der neue Mitarbeiter die Gelegenheit, in den neuen Job stufenweise hineinzuwachsen und im gesicherten Umfeld Fehler mit begrenzter Auswirkung zu machen. Das Unternehmen wiederum hat mit jeder Aufgabe einen neuen „Checkpoint“, mit dem es die Arbeit des Mitarbeiters bewerten kann und rückmelden kann, was gegebenenfalls noch verbessert werden muss.
Fazit
Wenn viel auf dem Spiel steht, lohnt es sich, die Komfortzone der bekannten Antworten aus System 1 zu verlassen und sich auf die Ungewissheit einzulassen. Das erfordert Aufwand, denn wir müssen unsere gesamte Aufmerksamkeit auf die Situation lenken und der Versuchung schneller Schlussfolgerungen widerstehen. Da wir selbst dann noch falsch liegen können, sollten wir regelmässig überprüfen, ob der eingeschlagene Weg Früchte trägt und ihn gegebenenfalls korrigieren. Mit agilen Prozessen können wir zuversichtlicher durch die zweifache Komplexität steuern - die von uns als Menschen und die unserer Umwelt.
Literatur:
Kahneman, Daniel (2011): Thinking, Fast and Slow. Farrar, Straus and Giroux, New York.
David Snowden and Mary Boone: A Leaders’ Framework for Decision Making. https://hbr.org/2007/11/a-leaders-framework-for-decision-making
Silke Krische: Agile oder klassich, das ist hier die Frage. https://achtsammanagement.de/agil-oder-klassisch-das-ist-hier-die-frage/
Bild: Pixabay
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